Der Holzwurm Hans

Ludwig und Paul schlenderten gemütlich zum Aufenthaltsraum, wo sie wie immer an den Arbeitstagen ihre Pause verbringen wollten. Paul meinte: „Heute war es erheblich angenehmer als gestern, das Holz war nicht so hart. Hätte mir gestern fast die Zähne ausgebissen. Bin gespannt, was mir meine Frau in die Frühstücksdose gepackt hat. Habe richtig Hunger“.

Ludwig entgegnete: „Auch wenn sich das Holz heute besser und leichter bearbeiten lässt – ich bin trotzdem froh, dass nun Pause ist! Allerdings nicht wegen der Arbeit, sondern wegen der Geschichte die uns Hans bestimmt gleich wieder erzählen wird. Das ist die beste Sache des ganzen Tages. Bin schon mächtig gespannt darauf.“

Die Beiden arbeiteten gemeinsam in einer gut funktionierenden Holzwurmkolonie. Diese lebte schon seit einigen Jahren zusammen in einem Baumstumpf, der als Rest stehen geblieben war. Die Aufgabe bestand darin, das Holz irgendwann aufzulösen und zu Staub zerfallen zu lassen. Die Holzwürmer waren verantwortlich dafür, dass es ordentlicher im Wald aussah und nicht so viele umgestürzte Bäume herumlagen. Vom Chef bekam jeder Bewohner feste Vorgaben gemacht, damit die Arbeiten geordnet ablaufen konnten.

Ob der Baum nun abgebrochen und umgestürzt war oder gefällt, das wussten und merkten die Holzwürmer nicht. Bereits als winzige Eier waren sie hier abgelegt und von ihren Eltern alleine gelassen worden. Nun verbrachten sie, bis sie sich zu richtigen Käfern entwickelt hatten, ihr ganzes Leben in eben jenem Holz. Sie kamen niemals heraus. Niemals. Normalerweise jedenfalls…

Nach und nach trudelten weitere Holzwürmer und auch Holzwürmerinnen ein und belegten ihre Stühle um den Tisch im Frühstücksraum. Jeder hatte seinen festen Platz. Während alle Anwesenden ihre Frühstücksdosen bereits ausgepackt und geöffnet hatten, blieben zwei der Stühle leer. Wie üblich zu Beginn der Pausen. Wie jedes Mal. Doch das störte schon keinen mehr. Viele hatten anfangs noch den Kopf geschüttelt und sich gefragt, wie jemand die Pause vergessen konnte. Im Laufe der Zeit gewöhnten sie sich aber daran und wussten, dass Hans immer und immer wieder später eintrudeln würde als sie. Zusammen mit Friedel, dem Vorarbeiter, kam er gutgelaunt nach. Friedel war verantwortlich für die Einhaltung der Arbeitszeiten. Ob zum Arbeitsbeginn, Pausenanfang oder auch zum jeweiligen Ende: er blies zuverlässig in ein Horn und gab das entsprechende Signal.

Hans war generell deshalb so spät, weil er den Ton des Horns nicht hören konnte. Nicht etwa weil er schwerhörig oder taub war, nein. Während er seiner Arbeit nachging, hatte er sich einen Kopfhörer auf die Ohren gezwickt. Hieraus dröhnten die unterschiedlichsten Beats in sein Hirn und ließen ihn fröhlich die Hüften im Takt hin- und herschwingen. Er liebte die Musik über alles, war nahezu verrückt danach. Wer ihn sah, der meinte, er habe Spaß und Freude an der Arbeit – und niemand bezweifelte das. Doch es war nicht so. Ihm gefiel lediglich die Musik. Und weil diese so toll in seinen Ohren klang, machte er die Pflicht für sich erträglich und merkte kaum, was er jeden Tag vor sich hinschaffte.

Wegen des Kopfhörers und der Musik, die nur er hören konnte, musste Friedel zu Beginn einer jeden Pause zu ihm hingehen. Wenn er ihm auf die Schulter tippte, nahm Hans den Kopfhörer von den Ohren und hängte ihn um seinen nicht vorhandenen Hals. „Pause“, sagte Friedel nur. Sonst nichts. Das reichte ja auch. So kam es, dass Hans jeden Tag verspätet im Aufenthaltsraum erschien und sich an seinen noch freien Platz setzte.

„Und?“, sprach ihn Willi, der direkt gegenüber saß, wie in jeder Frühstückspause an, „Bist wieder reichlich spät heute. Musst dich jetzt ganz schön beeilen mit Futtern, damit du uns noch eine schöne Geschichte erzählen kannst!“

Hans sah ihn an und grinste: „So, eine Geschichte willst du hören! Kann ich dir auch etwas erzählen, was ich erlebt habe?“

Jubel brach aus, alle freuten sich und klatschten: „Ja fang schon an“, forderte Paul, „kannst doch zwischendurch essen!“

Und Karl rief hinterher: „Klar! Dann bleibt mehr Zeit für die Geschichte!“

Hans öffnete seine Frühstücksdose, holte einen Holzsplitter der saftigen Zeder heraus, biss hinein und nickte. Dann hob er seinen Kopf nur ein kleines Stück und schaute in die Runde.

 

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